Es ist wieder soweit: Zum Jahresende beginnt der alljährliche Marathon der Kollektivvertragsverhandlungen. Sie dominieren nicht nur die Schlagzeilen, sondern führen oft auch zu Spannungen und verhärteten Fronten zwischen den Interessenvertretungen und mitunter sogar zu Streiks, die den Alltag vieler Menschen beeinflussen. Der wohl (stets) heißeste Streitpunkt? Die Frage nach den alljährlichen Lohnerhöhungen. Es wird um Zehntelprozentpunktegerungen, und am Ende steht ein (hoffentlich) für alle zufriedenstellendes Ergebnis. Aber worum geht es bei diesem Verhandlungspunkt genau, und weshalb ist die konkrete Form der Ausgestaltung der Lohnerhöhung für beide Verhandlungsparteien so wesentlich?
Wir nehmen an, Herr Mustermann ist Pflegeassistent im Bereich der Sozialwirtschaft. Sein kollektivvertragliches Mindestgrundgehalt beläuft sich auf EUR 2.252,70 brutto. Der Arbeitgeber von Herrn Mustermann hat sich beider Einstellung aber dazu entschieden, Herrn Mustermann eine deutliche Überzahlung über das kollektivvertragliche Mindestgehalt zu gewähren und verdient deshalb EUR 2.800,00 brutto monatlich.
Ende 2024 stehen die Verhandlungen für den Abschluss des neuen Kollektivvertrages an und Herr Mustermann fiebert bereits jetzt seiner jährlichen Gehaltserhöhung entgegen. Am Ende der Verhandlungen steht eine Erhöhung der kollektivvertraglichen Mindestgehälter um 5%.
Nach Abschluss der Verhandlungen bekommt Herr Mustermann Ende Jänner 2025 die erste Gehaltsabrechnung des neuen Jahres vorgelegt und wundert sich, weil als Bruttobetrag weiterhin nur EUR 2.800,-- brutto ausgewiesen stehen, dabei hatte er vorab bereits mit EUR 2.940,- brutto kalkuliert – ein gewichtiger Unterschied, findet nicht nur Max. Er ruft verärgert bei der Gewerkschaft an und fragt nach, wie das sein kann.
Was Herr Mustermann nicht weiß: Bei den jährlichen Kollektivvertragsverhandlungen ist zwischen der Erhöhung der kollektivvertraglich festgelegten Mindestgehälter(„dispositive Ist-Lohn-Klausel“) (Variante 1), der Erhöhung der kollektivvertraglichen Mindestgehälter unter Aufrechterhaltung der Überzahlung („Spannenklausel“)(Variante 2) und den Erhöhungen der tatsächlichen Gehälter/Löhne („schlichte Ist-Lohnklausel“)(Variante 3) zu unterscheiden.
Die Kollektivverträge legen Mindestgehälter fest, die Arbeitnehmer:innen nach Tätigkeit und nach Anzahl der angerechneten Vordienstzeiten zustehen. Arbeitgeber:innen sind verpflichtet, diese zu zahlen, können aber – wie bei Herrn Mustermann – auch höhere Gehälter gewähren. Verstöße werden nach den Bestimmungen des Lohn- und Sozialdumpingbekämpfungsgesetz (kurz „LSD-BG“) geahndet.
Bei den prozentualen Erhöhungen, die in den meisten Kollektivverträgen Jahr für Jahr ausverhandelt werden, kommt es zumeist nicht nur zur Anhebung der Mindestgehälter (Variante 1). Vielfach werden die einzelvertraglich vereinbarten Gehälter erhöht (Varianten 2 und 3).
Nun ist es zwar grundsätzlich so, dass Kollektivverträge nicht auf einzelvertragliche Regelungen einwirken dürfen, nach der Judikatur sind jedoch Ist-Lohn-Klauseln, die sicherstellen, dass auch Arbeitnehmer:innen mit Überzahlung von den Gehaltsanpassungen profitieren, aber unter gewissen Voraussetzungen zulässig.
Zulässig sind Ist-Lohn-Klauseln insbesondere dann, wenn es sich um sogenannte „schlichte Ist-Lohn-Klauseln“ handelt. Das bedeutet, dass die Klausel im Kollektivvertrag zwar das einzelvertraglich vereinbarte Gehalt um einen bestimmten Prozentsatz anhebt, diese Anhebung aber direkt danach theoretisch durch eine (einzelvertragliche) Vereinbarung zwischen Arbeitnehmer:in und Arbeitgeber:in wieder rückgängig gemacht werden könnte. Freilich nur bis zum kollektivvertraglich festgelegten Mindestgehalt.
Bei Vereinbarung einer Ist-Lohnklausel im Kollektivvertrag wäre das mit Herrn Mustermann vertraglich vereinbarte Gehalt daher um 5% von EUR 2.800,- brutto auf EUR 2.940,- brutto angestiegen.
Eine weitere Ausgestaltungsvariante sind sogenannte „Spannenregelungen“. Hier wird vereinbart, dass die Überzahlung betragsmäßig aufrecht bleiben soll. Erhält Max Mustermann eine Überzahlung über das kollektivvertragliche Mindestgehalt in Höhe von (derzeit) EUR 547,30 brutto, so müsste er nach der Erhöhung der kollektivvertraglichen Mindestgrundgehälterweiterhin eine Überzahlung in Höhe von EUR 547,30 brutto (oder gesamt EUR2.912,64 brutto) erhalten. Effektiv steht damit eine Erhöhung von knapp unter 5Prozentpunkten zu Buche. Für Arbeitgeber:innen uU eine nicht unwesentliche „Ersparnis“.
Umstritten ist hingegen die Zulässigkeit sogenannter „qualifizierter Ist-Lohn-Klauseln“, durch die das erhöhte Ist-Gehalt (auch) zum neuen Mindestgehalt gemacht werden soll. Damit soll eine (einzelvertragliche) Vereinbarung zwischen Arbeitnehmer:in und Arbeitgeber:in, mit der die Erhöhung nachträglich wieder rückgängig gemacht werden könnte, jedenfalls verhindert werden. Die Frage der Zulässigkeit solcher Klauseln ist in der Rechtsprechung aber noch nicht geklärt, weil sie in der der österreichischen Kollektivvertragslandschaft faktisch keine Bedeutung haben.
Jedenfalls zulässig ist hingegen die Vereinbarung von sogenannten „dispositiven Ist-Lohn-Klauseln“. Solche liegen vor, wenn bereits im Kollektivvertrag ausdrücklich festgehalten wird, dass Erhöhungen deskollektivvertraglichen Mindestgehalts auf bestehende Überzahlungen angerechnet werden können. In diesem Fall ist die Frage, ob eine Erhöhung des tatsächlichen Gehalts vorgenommen werden muss, der Parteienvereinbarung zu überlassen.
Folglich teilt die Gewerkschaft Herrn Mustermann nach Blick in den Kollektivvertrag und den Arbeitsvertrag mit, dass die von der Arbeitgeberin durchgeführte Gehaltsabrechnung korrekt und eine Erhöhung seines Ist-Gehalts aufgrund der vorliegenden Überzahlung nicht erforderlich war, weil der nunmehr ausgehandelte Kollektivvertrag die Anrechnungsmöglichkeit auf bestehende Überzahlungen vorsah. Max Mustermann hat nun endgültig erkannt, welch wesentliche Auswirkungen die Kollektivvertragsverhandlungen auf sein Arbeitsverhältnis haben (können).
Aufsaugklauseln sind Klauseln in Arbeitsverträgen, mit denen vereinbart wird, dass zukünftige kollektivvertragliche Ist-Lohn-Erhöhungen auf die gewährte Überzahlung anzurechnen sind (wie dies etwa auch bei dispositiven Ist-Lohn-Klauseln im Kollektivvertrag der Fall ist). Sofern ein Kollektivvertrag eine Aufsaugklausel nicht für unzulässig erklärt, kann eine solche unter Einhaltung gewisser Grenzen im Arbeitsvertrag zulässig vereinbart werden.
Aufsaugklauseln sind nur eingeschränkt zulässig; sie müssen ua einem Günstigkeitsvergleich standhalten. Das bedeutet: Wäre der/die Arbeitnehmer:in ohne Aufsaugklausel zum Mindestgehalt eingestellt worden, muss die Regelung mit Aufsaugklausel für den/die Arbeitnehmer:in im Endergebnis trotzdem vorteilhafter sein.
In einer Entscheidung kam der OGH etwa zu dem Ergebnis, dass die Parteien die nächsten zwei bis drei Ist-Lohn-Erhöhungen durch Vereinbarung eines deutlich über dem Mindestgehalt liegenden einzelvertraglichen Gehalts und gleichzeitiger Aufsaugklausel vorwegnehmen können, wenn dies günstiger für den/die Arbeitnehmer:in ist („Vorwegnahme der kollektivvertraglichen Erhöhungen“) (sehen Sie hierzu im Detail: OGH 8 ObA 173/98v). Die Zulässigkeit von Aufsaugklauseln ist also (zeitlich) begrenzt und sollte im Einzelfall stets auf ihre Rechtswirksamkeit geprüft werden, damit es im Nachgang nicht zu unliebsamen Überraschungen auf Seite der Arbeitgeberin kommt.
Wenn bei den jährlichen Gehaltsverhandlungen also um prozentuale Erhöhungen gefeilscht wird, geht es dabei zumeist nicht nur um die Anhebung der kollektivvertraglichen Mindestgehälter, sondern auch um die Erhöhung der tatsächlichen Gehälter. Dies hat sowohl für Arbeitgeber:innen als auch für Arbeitnehmer:innen wirtschaftlich eine deutlich größere Bedeutung als es zunächst den Anschein hat.
In der Kollektivvertragspraxis werden meist schlichte Ist-Lohn-Klauseln vereinbart, die bewirken, dass die tatsächlichen Gehälter um einen bestimmten Prozentsatz oder so angehoben werden, dass die Überzahlung(zumindest) in gleicher Höhe erhalten bleibt. Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen können anschließend vereinbaren, das Gehalt wieder abzusenken, was in der Praxis jedoch äußerst selten vorkommt – die einzuhaltende Untergrenze bildet dabei stets das kollektivvertragliche Mindestgehalt.
Arbeitgeber:innen, die ihre Arbeitnehmer:innen merklich überzahlen, können die Wirkungen von Ist-Lohn-Klauseln in Kollektivverträgen auch durch die einzelvertragliche Vereinbarung von sogenannten Aufsaugklauseln hintanhalten. Die Vereinbarung solcher Klauseln ist aber nur dann zulässig, wenn der Kollektivvertrag dem nicht entgegensteht. Aufsaugklauseln sind außerdem nur eingeschränkt zulässig und sollten stets auf Ihre Rechtswirksamkeit überprüft werden.
Max Mustermann hat seine Lektion gelernt: Er wird künftig darauf achten, welche Art der Ist-Lohn-Klausel zwischen den Kollektivvertragsparteien vereinbart wurde und wird die Ist-Gehalterhöhung nun selbst in die Hand nehmen und mit seiner Arbeitgeber:in neu verhandeln.
Sollten auch Sie Fragen zu Änderungen im Kollektivvertrag haben oder Hilfestellung bei der Ausarbeitung oder Prüfung einer bestehenden Aufsaugklausel haben, berät sie unser Team sehr gerne!
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